new environments of mobility

Menschen sind Wartewesen

Thomas Macho

Philosoph

http://www.ifk.ac.at

Diese Interviewserie wurde im Rahmen des Forschungsprojekts „NEMO – New Environments of Mobility“ begonnen, weil wir die Menschen, für die wir Stationen und Wartebereiche entwickeln, persönlich kennenlernen und wissen wollten, worüber „People on the go“ berichten.
Mir gefiel der Name NEMO von Anfang an sehr gut, mit dem Doppelbezug, einerseits zu Jules Vernes Kapität, andererseits zu Odysseus,
Reiseerzählungen unterschiedlicher Art, in denen jeweils das Thema des Wartens auftaucht. Ich habe mich, ausgehend von einer Kunstaktion von Gregor Schneiders, in den letzten Jahren immer wieder mit dem Warten beschäftigt.

Ich möchte das Gespräch gerne mit einer Textpassage aus dem Vorwort, das Sie für den Katalog zur Kunstaktion von Gregor Schneider geschrieben haben, beginnen: „Menschen sind Tiere, die Zeit haben. Sie haben Zeit, weil sie in die Vergangenheit zurückblicken und in die Zukunft vorausschauen können. Wenn etwas geschieht, was die Herzen verwirrt oder die Köpfe überrascht, können sie fragen, warum ist es passiert? Und gleichermaßen können sie fragen: Was wird demnächst passieren? Wer oder was hat dieses Ereignis verursacht? Welche Folgen wird es bewirken…Und sie können warten.
Menschen sind Wartewesen. Ihr Warten unterscheidet sich vom Warten des Raubtiers auf seine Beute, vom Warten des Beutetiers auf den günstigsten Moment für einen Fluchtversuch. Wartewesen
können ihr Warten mit eigenen Inhalten füllen: mit einer Art von Zuneigung für die verstreichende Zeit.“
Gregor Schneider hat vor einigen Jahren für die deutsche Staatsoper in Berlin ein Projekt über das Warten durchgeführt. In diesem Projekt wurde das Warten als solches zur Attraktion erhoben. Die Besucher wurden eingeladen, sich in eine Warteschlange einzureihen, die langsam zu einem Magazin geführt wurde. In der Warteschlange gab es „Guides“, deren Aufgabe es war, das Tempo der Warteschlange durch Rückmeldungen zu beschleunigen oder zu verlangsamen. Das pure Warten war das Spektakel.

In den Erzählungen unserer Interviewpartner, wurde uns das Warten unter bestimmten Voraussetzungen als gar nicht so unangenehm geschildert, im Gegenteil viele Menschen nehmen sich auch Zeit zum Warten…
Auch ich habe in soziologischen Untersuchungen diese Erfahrung gemacht. Deshalb hat mich das Thema Warten in einem breiteren
kulturellen Kontext interessiert, ich bin der Frage nachgegangen, wie
unterschiedliche Kulturen damit umgehen. Wo wird Warten als unangenehm empfunden, wo nimmt man sich dafür Zeit? Ich habe mich diesem Thema auch aus der Perspektive der Kulturtheorie angenähert. Besonders interessant erscheint mir eine ältere Arbeit von Marc Augé, in der er das Anwachsen der „Nicht-Orte“, der „Non-Lieus“ beschreibt.
Das Kernthema dieser Analyse betrifft unsere heutige Mobilität und die Frage, welche Eigenschaften diese „Non-Lieus“ haben. Die Idee des
traditionellen Ortes, so Augé, sei ja dadurch definiert, dass man quasi eine vertikale Achse errichtet wird, die Geburtsort und Zugehörigkeit markiert. Im Gegensatz dazu stehen die passageren Orte, die
„Nicht-Orte“, das sind Flughäfen, Bahnhöfe und andere Orte, wo man sich transitorisch aufhält, warten muss und man per definitionem nicht zu Hause ist. Augé wollte wissen, wie die Leute diese Orte wahrnehmen und wie sie sich im Kontrast zu traditionellen Orten, die von Phantasien wie Herkunft und Zukunft definiert sind, verhalten. Wie fühlen sich die Menschen an passageren Orten, an denen jeder „flüchtig“ ist, wie geht man mit der explosionsartigen Vermehrung von „Nicht-Orten“ um?

Betrachtet man Architektur als bloßes Ergebnis von Programmen, als Verdichtung im urbanisierten Netz, als Profit- und Marketingorientierte Monumente, dann werden sie mit hoher Wahrscheinlichkeit als Nicht-Orte erlebt mit allen möglichen Konsequenzen.
Die Herausforderung liegt darin, diesen Orten eine Identität zu verleihen, eine vertikale Dimension im Kontext des öffentlichen Raums
zeitgemäß zu interpretieren.
Ja, die Orte, an denen wir heute leben werden häufig als passagere, räumliche Infrastruktur definiert und nicht mehr durch einen persönlichen, traditionalen Bezug. Früher wurde das Leben mit Verwurzelung assoziiert, man wurde irgendwo geboren und blieb dort auch. Heute bleibt man mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht ein Leben lang an seinem Geburtsort.
Doch interessanterweise gehen die Leute ins Ausland, verbringen dort ein halbes Leben, aber wenn sie sterben, wollen sie daheim bestattet
werden. Es gibt Fluggesellschaften, die darauf spezialisiert sind,
insbesondere aus dem Umkreis von Migranten der zweiten oder dritten Generation, Tote an ihre Geburtsorte zu überstellen.

Was uns besonders interessiert sind jene Formen von Mobilität, die sich nicht mehr auf eine vertikale Migration beziehen. Sie haben großen Einfluss auf Mobilitätsnetzwerke, die Umstiege an Knotenpunkten und auf Verkehrsstationen.
Das ist eine sehr spannendes Thema, das auch in der Stadtsoziologie und in der Mobilitätssoziologie analysiert wird. Unsere traditionellen Forschungsansätze zum Reisen basieren auf der zuvor geschilderten Verschränkung von Orten und Nicht-Orten oder vertikaler und horizontaler  Mobilität. Allerdings gehen diese Modelle immer von der Sesshaftigkeit der Menschen aus, einer vergleichsweise kurzen Periode der Menschheitsgeschichte seit ca. 10000 – 12000  Jahren. Jäger und Sammlerinnen reisten nicht, sie waren immer mobil und hatten nicht die Idee, einen Ort vertikal durch Geburt und Herkunft zu definieren, da sie eben die Vorstellung des Reisens gar nicht kannten.
Die Frage, die sich mir heute stellt ist, ob wir möglicherweise wieder auf dem Weg dorthin sind? Der gravierende Unterschied ist allerdings, dass vor hunderttausenden von Jahren die Erdbevölkerung der Jäger und Sammlerinnen sehr gering war. Das Problem dieser Menschen bestand weniger in der Kriegsführung gegeneinander, um territoriale Ansprüche zu verteidigen, sondern vielmehr darin sich überhaupt zu treffen.
Unsere politischen Systeme sind natürlich nicht so definiert und regeln Mobilität über Zugehörigkeit, über die Erfassung von vertikaler
Mobilität. Das Projekt der Europäischen Union hatte das originäre Ziel, eben diese Zugehörigkeiten in einer zeitgemäßen Form sukzessive zu überwinden. Allerdings stecken wir genau mit diesem Anspruch heute in der tiefsten Krise seit der Gründung der EU.

Welche Rolle hat das Internet im Kontext von Verortung?
Ich komme nochmals zu Marc Augé und der Unterscheidung zwischen Ort und Nicht-Ort zurück. Inmitten der unzähligen kulturkritischen Ausführungen über jene Menschen, die sich in einem Zug, Musik am Handy anhören und im Internet surfen, ist mir durch den Kopf gegangen, dass es ein Versuch ist, Nicht-Orte in etwas Persönliches zu verwandeln. Die Aktivierung dieser Bezugssysteme haben mit Herkunft, mit Freundschaft, mit einer vertikalen Dimension zu tun, mit Verortung zu tun.

Wie ließe sich die Sehnsucht nach Identität und Individualisierung an transitären Orten symbolisch noch befriedigen?
Eine der schönsten Ideen, die ich jemals im Zusammenhang mit dem Warten erlebt habe, wurde in den Niederlanden realisiert. Alle Flughäfen und Bahnhöfe wurden mit Konzertflügeln ausgerüstet.
Man kommt am Bahnhof an und wird von schöner Musik auf hohem Niveau empfangen. Jeder, der spielen will, darf das auch.

Nehmen Sie sich Zeit zum Reisen?
Ich fahre regelmäßig zu früh zum Bahnhof oder Flughafen, um in Ruhe warten zu können. Ich genieße diesen Zwischen-Raum, diese
Zwischen-Zeit, das Passagere ….

Haben Sie bestimmte Warte-Rituale?
Mein Ritual, das aber eigentlich kein richtiges Ritual darstellt, besteht darin, dass ich immer Bücher dabei habe und diese dann beim Warten nicht lese, da ich lieber zu Hause lese. Das Schöne am Warten ist, einfach mal wirklich nichts zu tun, auf sehr angenehme Weise bei sich selbst zu sein, in einer Lounge oder in einem Warteraum zu sitzen und zu
sinnieren, ohne den Zwang zu verspüren, etwas, das mir durch den Kopf geht, aufschreiben oder festhalten zu müssen. Diese Ruhe, die so entsteht, mag ich sehr gerne.
Es gibt ein schönes Photoprojekt über die interreligiösen Andachtszentren auf Flughäfen, die ja auch eine spezielle Art von Warteräumen sind und nochmal die Verbindung von Vertikalität und Horizontalität thematisieren… Eine reizvolle Idee, sich an einem „Nicht Ort“ an irgendeinen Gott zu adressieren.

Beten vor dem Boarding….

 

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